Der Blinde

Die Augenlider geschlossen, wie bei einem Kiosk, das gerade zu ist. Heute kein Kaugummi, keine Zigaretten: einfach geschlossen. So sitzt er da und kaut, schluckt und wartet, hört seine Betreuerin sagen, dass er nun einen Schluck trinken soll, spitzt den Mund an die heranschwebende Tasse und trinkt. Nein er schlabbert nicht, er hat halt nur die Augen geschlossen: oder ob es da in den Augenhöhlen nichts mehr gibt? Auch rührt er sich nicht vom Fleck, als sie noch etwas von Frühstücksbuffet holt und wieder kommt, ihr Tun leise kommentiert und nicht überrascht ist, dass er sich nicht weiter bewegt hat. Das ist so verlässlich, er fällt nicht um, er zuckt nicht, er schlabbert nicht, sein Atem ist unauffällig- ob er manchmal hustet? Er scheint bequem zu sitzen, überhaupt macht er einen ruhigen, abgehobenen Eindruck. Er ist präsent auch mit geschlossenen Augenlidern. Das bedeutet, dass die andern im Raum, dem Frühstücksraum mit überwiegend alten Leuten, gebrechlichen, betreuten Menschen auf die die Bezeichnung Patient im Urlaub halt mal nicht angewendet werden wird, die sie aber sonst gewohnt sind, dass also die andern jenen älteren Herrn wahrnehmen und sich seiner Anwesenheit bewusst sind, ab und zu herüberschauen wie um sich der eigenen Existenz immer wieder zu versichern, so wie man durch Wahrnehmung stets auch die eigene Existenz bestätigt. Dieses System von gegenseitiger Existenzwahrnehmung durch Blick-Kontakt, durch die Möglichkeit, auch von andern gesehen zu werden, wird von unserem älteren Herrn durchbrochen. Zumindest wird es verlangsamt auf irritierende Weise. Wandert er mit seinen Ohren durch den Raum? Er hört gut, seine Betreuerin spricht leise mit ihm, wenn sie etwas sagt. Oder hat er etwas an sich, das merkwürdig wirken könnte? Es hat nicht den Anschein, dass er unter seiner Blindheit leidet, Er würde es auch aushalten wenn er ab und zu mal angeschaut würde, Behinderte kennen das Gefühl, angestarrt zu werden, wenn der Blick des Gegenüber zu lange auf den Merkmalen der Behinderung verweilt- es handelt sich um Bruchteile von Sekunden die den Unterschied machen zwischen Blickkontakt der nicht etwa erwidert werden müsste und Angestarrt werden. Der ältere Herr entzieht sich einfach diesem Ritual der gegenseitigen Bestätigung von Existenz (Ja, ich habe Dich gesehen, mir ist das erträglich oder gar angenehm). Mitten in all diesen Überlegungen öffnen sich seine Lider für einen Moment, er fixiert mit sehr dunklen Augen, solchen, die an die Dunkelheit längst gewöhnt sind mit großen Pupillen, aus dem Stand heraus und vergewissert sich kurz, dass er nicht mehr sehen muss, er hat alles mit diesem einen Blick gesehen und sich bestätigt gefunden, dass die akustische Welt mit der kurz erfassten visuellen Welt hinreichend übereinstimmt. Dann sind die Augen wieder zu und es wird deutlich, dass er eines erforschenden, vergewissernden Blickes, dem Folgen von Bewegungen, all diesen bequemen redundanten Erfahrungen von seiner Existenz und der der anderen im Raume nicht mehr bedarf. Es bleibt unklar, ob er etwas sehen würde, wenn er die Augen kurz öffnet. Klar ist nun, dass der ältere Herr genug gesehen hat. Er hat den vollen Durchblick, wie man so schön sagt.