Kurz Urlaub

Ihre Tochter, die gerade ein freiwilliges Soziales Jahr in der Psychiatrie beendet, war noch ein wenig ratlos, als sie auf der Autofahrt erzählte, dass von ihr auf dem Abschluss-Seminar ein dreiminütiger Vortrag über irgendein Thema erwartet werde. Der Freund der Mutter, die mit ihm in einen echten Kurz-Urlaub fahren wollte, zog den Internet-Ausdruck eines AWO Feriendomizils aus der Tasche und entfaltete den Zettel, nachdem er sorgsam die Adresse für den Navi abgerissen hatte, mit der Bemerkung, dass das doch eine nette Geschichte wäre: Mutter sucht für einen KurzUrlaub eine passende (preiswerte) Unterkunft, möglichst schon empfohlen von Kolleginnen aus dem Betrieb, und hat auch schon gebucht. Dann liest der Freund den Text der Präsentation des Ferienheimes der AWO und schlägt der Tochter vor, genau darüber etwas zu erzählen. "Das Landhaus bietet den vollen Komfort und Service wie ein Hotel – Dienstleistungs- und Serviceorientierung sind für uns oberste Prämisse. Hier im Landhaus finden unsere Gäste alles, was den Aufenthalt in einem „Hotel“ ausmacht. Angefangen bei den geschmackvoll eingerichteten Zimmern über ansprechende Restaurantbereiche, das gemütliche Café bis hin zu Wellnessangeboten wie Sauna und Schwimmbad, Sport- und Massagebereich". Wenn dies genau das sei, was man gesucht habe, wäre es ja keinen dreiminütigen Vortrag wert, falls da nicht irgendwas noch kommen würde- und richtig, der Prospekt verschweigt nichts, dort steht: "Durch verschiedenste Zimmerzuschnitte ist das gemeinsame Reisen von Pflegebedürftigen und dementiell Erkrankten mit jeder denkbaren Begleitung möglich. Dank seiner Größe bietet sich das Landhaus ebenso für Gruppenreisen an, beispielsweise für Interessenvertretungen wie die der Alzheimergesellschaft oder Selbsthilfegruppen". Nun erst versteht man, warum im ersten Absatz des Prospektes das Wort „Hotel“ in Anführungszeichen steht. Da der Freund der Mutter deutlich älter ist, wird sich die Tochter schon ein drei-Minuten-Szenario ausdenken können, in dem die verschiedenen Krankheiten, die mit fortschreitendem Alter einhergehen, erwähnt werden und wo genau dieser Aspekt der Vorwegnahme künftiger Gegebenheiten zu möglichen Rollenkonflikten führen würden: Wer ist Betreuer von wem? Vorweggenommen hatte der Freund die Rollenaufteilung durch ein überbetontes Nachhintenreichen des abgerissenen Prospektes, mit dem für Parkinsonkranke typischen Tremor. Die Tochter wurde abgeliefert an dem vereinbarten Bushaltestellen Punkt, das Wetter war schön und die anderen Jugendlichen von einer bestimmten Sorte- nämlich den Freiwilliges-Soziales Jahr- und Ersatzdienstleistenden aus der Gegend. Jedenfalls war die Szene gesetzt- Rahmenbedingungen klar umrissen, man wollte ein Kurz-Urlaub-Wellness- Wochenende mitten in der Woche. Zum Mittagessen könnten sie da sein. Schon die Fahrt war sehr angenehm. In W. angekommen, erzählte die Navi Stimme angesichts einer Baustellen Umleitung nur Schrott und als sie in eine Wohngegend kamen, wo sie kaum vor und zurück konnten, fragten sie einen offenbar Einheimischen nach dem Weg und der war sehr schnell bereit, auf umständliche Erklärungen zu verzichten und seine Mitfahrt zum Ziel anzubieten: Er habe als Rentner ohnehin nichts weiter vor und die paar Meter wolle er dann gerne zurücklaufen, weil es doch recht kompliziert sei, das zu erklären. An dem Stop Schild aber, und das werde er nie durchgehen lassen, müsse man wirklich komplett anhalten, da kenne er nichts, den flotten Fahrstil wolle er ja nicht kritisieren, aber das mache halt Sinn, anzuhalten wenn da ein Stop Schild stehe. Er kenne sich hier aus, seit siebzig Jahren wohne er hier. Irgendwie wollte er wohl im hohen Alter noch den Auswärtigen einen besonnenen Fahrstil empfehlen. Aber er blieb bis zum Schluss freundlich und allen Befürchtungen zum Trotz entwickelte sich eine fast gemütlich freundliche Atmosphäre bis man das Hinweisschild auf das Ferienhaus entdeckte und man sich noch einen schönen Tag wünschend trennte. Angekommen entsprach das Haus dem Bild im Internet, mehrere Behinderten Autos waren gerade eingetroffen und wurden entladen, „Ich habe die Evelin unten hingesetzt, die wartet da bis wir kommen“. Betreuerinnen mittleren Alters trugen das Gepäck, schoben die Rollstühle und stapelten die Koffer erst einmal in der Lobby – jedenfalls dem Raum gegenüber der Theke, auf der ein Schild mit „Rezeption“ drauf stand. Die Dame an der Rezeption prüfte kurz die Buchung auf den Namen und vermutete zunächst, dass man zur selben gerade angekommenen Gruppe gehöre: „Nein wir sind privat hier“- der zunächst irritierte Blick, als ob es sich vielleicht um die Auskunft über die Krankenkassen-Abrechnungs-Modalitäten gehandelt habe, veranlasste sie nochmals die Buchung anzuschauen und dann wieder zu kommen mit der Nachricht, man habe Zimmer zwohundertunddrei, ob sie es den beiden kurz zeigen könne. Das war irgendwie merkwürdig in der Hektik der Ankunft einer größeren Gruppe: Sicherlich hat sie normalerweise den jeweiligen Betreuerinnen den Schlüssel ausgehändigt, auf den Aufzug verwiesen und diese dann ihrem Schicksal überlassen. Irgendetwas aber schien mit den beiden anders zu sein. Sie bat zunächst, wegen des anstehenden Mittagessens, doch das Gepäck erst einmal an der Rezeption zu lassen. Es war für sie wohl nicht auszumachen, wem sie den Schlüssel geben solle, wer also von wem betreut werde. Der Gang zum Aufzug, den Flur entlang, wurde noch gewürzt mit der Bemerkung, dass das Zimmer noch nicht ganz fertig sei. In der Tat, die Tür war offen zu einem recht großzügigen eigenen Vorraum hin, von dem in der Mitte das große Bad abging und rechts und links je eine Zimmertür. In dem einen offenstehenden Zimmer stand die Überraschung: Neben einem normalen Bett ein Behinderten- Bett mit recht hohen Seitengitterteilen, die das Rausfallen verhindern sollten, das Bett auf praktischen Rollen und in alle mögliche Lagen elektrisch höhenverstellbar. Das kleinere Zimmer hatte halt nur Platz für ein Einzelbett. Die Begeisterung hielt sich daraufhin deutlich in Grenzen und sie bemerkte noch, dass auch ein Zimmer gegenüber im Prinzip zur Verfügung stehe. Man ging rüber und sogleich fiel im ebenfalls vorhandenen Vorraum die Tür des Aufzugs auf. Aufzüge sind Schlafstörer. Also fuhr man wieder runter zur Rezeption, wo zwischenzeitlich der Geschäftsführer anwesend war, um die Gruppe zu empfangen. Dort wurde dann kurzerhand vereinbart, dass man über Mittag ein angemessenes Zimmer finden wolle und das Gepäck hier an der Rezeption gut aufgehoben sei. Die Situation hatte sich schon so entwickelt, wie im Auto befürchtet, aber dass so deutlich kommen würde, was der Phantasie-Erzähl-Geschichten- Auftrag an die Tochter war: erstaunlich! Der Geschäftsführer begleitete die beiden nach unten in den Speisesaal, wo gemütliche und abwaschbare Stühle und Tische bevölkert waren von der eben angekommenen Gruppe mit Rollstühlen, Rollatoren und einer bunt gemischten Schar von Betreuerinnen. Ein Buffet-Mittagstisch an der langen Seite des Raumes und ein Kellner mit langer, hinten nur fast geschlossener schwarzer Schürze. Der zeigte dem Geschäftsführer auf dessen Nachfrage hin wo er die beiden hinzusetzen gedacht hatte, auf zwei Plätze an einem besetzten Tisch. „Keineswegs“ bemerkte der Geschäftsführer entschieden und fand einen anderen Tisch, an dem niemand mehr saß. In professioneller Eile wurde der Tisch neu eingedeckt und die nach Stoff aussehende Tischdecke mit feuchtem Tuch gereinigt, das Tafelwasser und die Gläser aufgestellt und auf das Buffett verwiesen. Der Geschäftsführer war sofort wieder verschwunden und die beiden waren im Haus nun endlich angekommen. Putenragout in Curry mit verschiedenem Gemüse, Kartoffeln oder Reis, schöner bunter Salat mit angenehmer Soße und Nachtisch. Ab und zu ein durchaus persönliches, freundliches Wort und ein Lächeln des Kellners, der vielleicht von hier aus den Sprung in ein richtiges Hotel zu hoffen wagt. Als Gast hofft man genau das Gegenteil, dass er im Hause bleibt und weiter zum Wohlbefinden seiner Gäste bleiben soll. Nach dem Essen gingen die beiden erwartungsvoll wieder zur Rezeption. Ja, man habe ein passendes Zimmer gefunden, das Gepäck könne man nun gleich mitnehmen, es werde gerade frisch hergerichtet. Zwei Reinigungsdamen legten gerade letzte Hand an die Betten in Zimmer 208, normale Doppelbetten, die Tagesdecke fehle noch, man bitte um ein wenig Geduld, das Haus sei ja eigentlich für über 60jährige. Ein großer Balkon, der einzige im Haus, entschädige vielleicht für den ersten Eindruck verkündete die Rezeptionsdame nicht ohne Stolz. Ein herrlich geschnittenes Eckapartment (ein Zusatz- Zimmer für die Betreuung war auch noch da) mit großen Fenstern und der vollen Aussicht auf das wunderschöne Sauerland, wie im Prospekt, geeignet als Königszimmer oder Hochzeitssuite. Nachdem die Reinigungsdamen weg waren- mit einem verschmitzten Lächeln auf dem Gesicht wegen der Erkenntnis, dass es sich bei diesen beiden wohl nicht um jemanden aus der üblichen Klientel handele, sondern um ein ganz normales Pärchen, das ein schönes Zimmer bekommen solle, genossen sie diese Wendung des Schicksals. Die Frage nach dem Aschenbecher, auf der Terrasse wenigstens, wurde beantwortet mit dem Hinweis auf einen im Garten befindlichen Raucherpavillon – sehr schön, antwortete er, geübt im Rauchen an verbotenen Stellen und aschte spätabends auf der Terrasse dann gekonnt in die leere Rotweinflasche, die sie mitgebracht hatte und genoss den herrlichen Fernblick am großen Baum vorbei.