Pfingstmontag

Er hatte schon in seine Postfächer geschaut, nachgesehen, ob irgendjemand ihn angerufen hatte, der ihm wichtig oder unbekannt genug erschien, zurückzurufen, dann hatte er noch Pinzgauer Rinder aufgerufen, weil ein Freund gerne was drüber lesen wollte und meinte, genau das habe er seinem Freund schon einmal ausgedruckt und in den Briefkasten gelegt und jener habe dies schon wieder vergessen. Egal war’s ihm er druckte es gleichwohl aus.

Schon zehn Tage lang schien die Sonne mit einer Kraft, die jeden Sommers würdig war und doch war erst Mai. „Ävver im Mai, da weed et widder schön, da blühn de Böhm“ und die armen Allergiker leiden wieder.

Das Angelus Läuten erinnerte ihn, dass er heute noch nichts von all den Eindrücken aufgeschrieben hatte, die unwiederbringlich verloren wären.

Er zwang sich jetzt in eine etwas aufrechtere Haltung, vom Becken her und erinnerte sich, dass er demnächst sein Stehpult aus dem Büro, wo es zu nichts mehr Nutze wäre, holen und in seinem Zimmer aufstellen wollte. Klar könnte er’s sofort machen, aber das war doch andererseits eine Aktion, die man aufschreiben könnte oder sich vornehmen, denn so einfach in den Tag hinein und herausleben wollte er nun wieder doch nicht, obschon er krank geschrieben war und niemandem außer seinem Hausarzt gegenüber Rechenschaft abzulegen hatte, was er denn am lieben langen Tag wohl unternehmen würde.

Er zog nun den Tisch etwas näher heran um besser schreiben zu können, weil er spürte, dass er sich wieder mal vor etwas drücken wollte, etwas, das raus hätte wollen und auf geheimnisvolle Weise drin bleiben wollte: So hatte er sich nun entschieden, es könnte raus, wenn es denn wollte.

Viele Leute hatte er heute getroffen. Nicht häufig wars, dass er Leute traf, nur in den letzten Tagen und wohl auch in den kommenden werden sich die Aussagen dergestalt wiederholen, dass er in gesetzten Worten zu vermitteln versuchte, was denn so gerade seine Sache sei und warum.

So schwer zu beantworten, weil das Gerücht sich verbreitet hatte, das Gerücht, es ginge ihm schlecht: Dabei war’s genau umgekehrt, Gerüchte sind halt doch langsamer als die Wirklichkeit: ihm ging es gut und auf Befragen erzählte er’s gerne, dass er seinen Gang wiedergefunden hatte, der war nach der Operation die er vor einigen Monate erdulden musste, nämlich verloren gegangen, schief war er gelaufen, so schief wie man eben läuft, wenn auf einmal das eine Bein zwei Zentimeter kürzer wird als vorher: Da musste es ja so kommen, dass auch zu all seinem Leid mit dem Bein, was nicht so recht heilen wollte, ein Bandscheibenvorfall hinzukam. Gerettet hat ihn die Einsicht, da er ja nun wieder gerade gehen wollte, seinen Gang wiederfinden, weil man ja schließlich Leute, die man kennt, schon von weitem am Gang erkennen kann und soll, die Einsicht nämlich, dass man die Kürze eines Beines durch Sohlenerhöhung ausgleichen kann und dass dann das Becken keinen Grund mehr habe, mit einem Bandscheibenvorfall zu reagieren.

Also längst lief er wieder gerade als er immer noch auf seinen miesen postoperativen Zustand angesprochen wurde. Ihn wunderte, wie weitläufig die Gerüchte  und um wie viele Ecken gewandert sie waren.
Er hatte bei der Geburttagsfeier- einem 11 Uhr Brunch- zu der er vor einem Monat eingeladen worden war, ein paar liebe Freunde getroffen, von denen er annahm, dass sie auch dort sein würden und hatte sich gefreut, weil man sich ja doch viel zu selten sieht.

Und dann fragte er sich während der Unterhaltung mehrfach, ob er nicht Floskeln, die wie Masken vorgezeigt,  weglassen könnte. Ging aber auf das angebotene Spiel, wenn ich von Dir erzähle, fallen mir immer die Geschichten ein wie Du Leute getroffen hast, die auch mir wichtig waren, die mir durch Deine Geschichte mit ihnen näher gebracht wurden, die ich auch gerne kennen gelernt hätte. Noch dem Motto, Stell Dir vor, ich kenne jemanden, der hat schon mal Präsident Kennedy die Hand geschüttelt! Oder die Geschichte mit den kleinen Bananen, die er immer gerne erzählte, wie er auf dem Markt von Guernavaca sich die Bananen anschaut und noch überlegt, jemand seine Hand auf seine Schulter legt und ihm auf Deutsch ins Ohr sagt, "Nehmen Sie die kleinen, dann haben Sie erst das richtige Bananenerlebnis"- und weitergeht, nicht ohne dass er ihn erkannt hätte- Erich Fromm war für ihn also der „Kleine Bananen-Empfehler“. Das war 1974 im Sommer, wo er die Ehre hatte, zu einer Gruppe von jungen Leuten zu gehören, die mit Ivan Illich einen Aufsatz zu den Fallstricken der Entschulung veröffentlicht hatten. Wie alt er demgegenüber heute war, zeigte sich ihm nicht am Tod seiner Lehrer- die sterben halt normalerweise vor den Schülern, so wie Ernst Bloch schon lange tot ist, Carl Rogers nur wenige Jahre nach seinem ersten Besuch in La Jolla,  und der Alttestamentler Otto Michel schon kurz nachdem er Tübingen den Rücken gekehrt hatte, nein, es hatte sich erst vor vierzehn Tagen gezeigt, als er in einer Buchhandlung das, wie sich herausstellte, letzte Buch von André Gorz gekauft und am selben Abend durchgelesen hatte und erfuhr, dass G. sich vorigen September zusammen mit seiner Frau das Leben genommen hatte, 86 jährig, aber noch vor seinem Tod die deutsche Übersetzung autorisiert hatte. Er, der mit ihm in Guernavaca kein Deutsch sprechen wollte- immer noch nicht. Der  all die großen Philosophen des letzten Jahrhunderts erlebt hatte, sei es Sartre mit dem er genauso eng befreundet war wie mit Simone de Beauvoir, Mitherausgeber des Nouvel Observateur und was alles noch in diesem seinem letzten Buch – dem „Brief an D.- Geschichte einer Liebe“ drinsteht. Warum ihn  dieses Bändchen so fasziniert hat, kann  man nur ansatzweise erahnen. Vielleicht weil Gorz in diesem Bändchen mehrfach genau dieses Seminar in Guernavaca erwähnt. Oder dass es eine Dimension von Liebe in der Ehe gebe, von der er keine Ahnung hatte. Aber das ist eine andere Geschichte: jetzt erst mal dachte er wieder an seinen Rücken  und das fehlende Stehpult.