Tagebuch

Ich schaue ein weißes Papier an und es hat einen typischen Aufforderungscharakter der Unbegrenztheit, der endlosen Wiederholbarkeit: auch der Beliebigkeit. Es ist anders als das Blatt eines Tagebuches, es ist so technisch, so geheimnislos. Irgendwie noch nicht indiskret. Wie wenn man sich vor langer Zeit, als es noch nicht Tagebuch gewesen, einen Nachschlüssel hätte machen lassen und nun, ganz ohne Herzklopfen, ganz ohne Verbotenes zu spüren, einfach liest. Ich erinnere mich einmal durch technischen Zufall einen Text, der nicht für mich bestimmt war, gelesen zu haben, vor langer Zeit, etwa zehn, zwölf Jahre muss es her sein, da öffnete ich eine solche Datei, deren Namen zunächst nichts ahnen ließ dann aber wurde mir sehr schnell klar, dass ich an eine Tagebuchseite geraten war- es war ja nicht mein PC sondern ein fremder, ich las nur ein Stück und hatte genau dieses Gefühl der Indiskretion. Ohne dass die Schreibende es wusste, jemals wissen wird, hatten diese Zeilen den Tagebuchcharakter verloren, waren quasi von anderen Augen gelesen, was nicht für andere Augen geschrieben worden war. Ent-deckt. Ein Text kann ent-deckt werden. Seine Unschuld verlieren. Ein Text der eigentlich privat war, wird öffentlich. Ich kann nicht Tagebuch sein. Ich kann Leser oder Hörer sein auch der privatesten Gedanken. Ich will nicht nur Zeuge sein, sondern Beteiligter.