Tante Jolanthe

"Ist aber ein altertümlicher Name" sagte ich zu dem kaum zwanzigjährigen jungen Mann, der von frischer Gesichtsfarbe und freundlichem Wesen sich um das alte Schaf rührend kümmerte. Er war am nächsten Abend zur Weide gekommen um zu berichten dass er es aufgenommen habe und in einen extra Pferch bei sich gestellt habe. Dann erzählte er die ganze Geschichte aus seiner Sicht. Dass zunächst das Schaf auf der grünen frischen Wiese angetroffen wurde und sich wohl widerwillig aber immerhin bis zum Ufer mitbewegte. Dort habe es aber nicht runter gewollt und sei bei entsprechendem Ziehen dann auch noch in den Graben gepurzelt. Schließlich habe er es mit Schubkarre zu sich in den Garten geholt. Ganz schön viel Arbeit die er sich für ihm bis dahin unbekannte Wanderschäfer gemacht habe, fand ich. Nun ja, er habe schließlich auch Schafe und lerne noch.

Auch jetzt wieder zeigte er, wie er die Nachbarschaftshilfe verstand: "bevor wir es jetzt zur Herde bringen, wieder mit der Schubkarre, gebe ich ihm noch ein Wurmmittel und schneide die Klauen". Ob sich das denn bei diesem alten zahnlosen Tier noch lohne, den Einwand hatte er geflissentlich überhört und mein Interesse war ja auch, dem Tier, was doch nicht im Wald verenden wollte, sondern lieber auf der grünen Wiese etwa einen Kilometer vor dem Ziel sich von der Herde entfernt hatte, die Rückkehr zur Herde zu ermöglichen. Er habe das Tier Jolanthe getauft, kam er zurück mit der Kanüle für die Wurmtablette, die er fachmännisch tief in den Rachen stopfte und erfolgreich einen Schluckreflex auslöste, Jolanthe hatte sich wieder hingelegt und er nahm sich die Klauenpflege vor. Schnitt ein klein wenig zu tief und musste mit Blauspray eine kleine Blutung am linken Vorderhuf stillen. Dann bugsierten wir Jolanthe, die ich mittlerweile am Kopf streichelte und ein dankbaren Blick dafür zurückbekam, in die Schubkarre. Jolanthe hatte Schwierigkeiten, den Kopf hoch zu halten, dass er nicht aus der Schubkarre vorne herunterbaumelte. Wir hatten, nein der Nachbarsjunge hatte, gekonnt aus dem Seil, das ich vorsichtshalber mitgebracht hatte, eine Art Halfter gebastelt, es mit den zusammengebundenen Beinen verknotet und so machte er sich mit diesem Paket in der Schubkarre auf und ließ mich mit dem Auto hinterherfahren.

Ja, Jolanthe kam bei der Herde an, wurde auf die Wiese in den Pferch gelegt und man schwatzte noch ein Weilchen - Soll sie ruhig bei der Herde sein wenn sie denn sterben muss und nicht allein im Wald oder auf fremder Wiese.

Die Fachsimpelei zwischen Walter, dem  Kollegen Hilfs-Schäfer und dem Nachbarsjungen war noch nicht zu Ende, da sprang Jolanthe auf die Füße, trottete sich schnellstens zur Herde und verschwand in der Anonymität der über zweihundert anderen Schafe und Lämmer.

Wie  sie uns abhanden gekommen war, ist eigentlich eine der eigenständigen Geschichten, die man erleben kann, wenn man sich als Hilfsschäfer auf Wanderschaft begibt und die Herde über die Berge in ein Futter versprechendes  Tal zurückführt: Alle Wege der Herde gehen immer zurück- man ist sich bei dieser Herde, die Karl, der gerade im Krankenhaus liegt, gehört, sicher, dass sich die Wege, die die Herde zieht, in eine Art kollektives Herdengedächtnis eingeprägt haben und dass man sie notfalls auch alleine ziehen lassen könnte. Emma, das Leitschaf, kennt sich aus. Ich lief hinten, Walter lockte die Herde mit dem typischen brrrrrrrt brrrrt, hatte den Hund vorne und ich "drückte"  hinten mit meinem kschschsch in verschiedenen Steigerungsformen  von Ernsthaftigkeit. Ein winziges kschsch half meist den älteren Schafen zu verstehen, dass ich nicht wollte, dass sie stehen bleiben oder dass sie an den Vorgarten Blümchen Interesse zeigen sollten sondern einfach weiterzulaufen hatten, ohne überstürztes Rennen, trotten, aber zügig. Es ging die Straße lang weil in jener Gegend die Straße die einzige kurze Verbindung war, auch eine Bundesstraße war zu queren und es sit schon erstaunlich wie sanftmütig Verkehrsteilnehmer sein können, wenn sie einer kreuzenden Schafherde begegnen. In der folgenden Siedlung gingen die Fenster auf und Mütter wie Kinder zeigten Interesse und sprachen Kommentare. Besonders zu Flöckchen, den zerbrechlichen zwei Tage alten Söhnchen von Anna, die mittlerweile wieder sauber daherstolzierte und offenbar die Kommentare der Anwohner genoß. Flöckchen konnte aber bald das Tempo nicht mehr mithalten also nahm ichs kurzerhand auf den Arm, gewährte ihm aber sofort wieder die Selber-Lauf-Freiheit, als es nach der Mutter blökte. So hatte ich es schon mehrfach getragen und mittlerweile waren wir aus der Siedlung wieder raus und zogen von der Straße weg in ein Waldstück. Noch ein anderes Schaf hatte Probleme mit dem linken Hinterbein und sein Lämmchen imitierte diesen eigenartigen behinderten Gang entweder einfach, weil die Mutter so geht, oder hatte zufällig auch was am linken Hinterbein. Hinten laufen immer die etwas Schwächeren, die ganz ganz Jungen und die Fußkranken. Nach einem sehr steilen Stück, kurz vor einer tiefen Pfütze, entschloss sich Jolanthe, auch eine der eher langsameren aber nicht hinkenden, zurückzubleiben.

Die andern liefen gut mit der Herde, also kümmerte ich mich um dieses offenbar alte, schwächelnde Tier.  Sich kümmern  bedeutet, es anders anzusprechen, ein leichteres kschsch,  und ein Außenrum nach Möglichkeit den Weg Abschneiden, damit es wieder auf den Pfad der Herde komme. Dies mag bei der üblichen Horde von Lämmern, die nach einer Weile alle hinten laufen wollen, funktionieren, aber nicht bei Jolanthe: Sie stellt sich mir entgegen, blickt mich an, blökt kurz und bedeutet mir, doch bitte in Ruhe gelassen werden zu wollen- geht ausdrücklich bergab, wohl wissend, dass sie es mir damit unmöglich macht, ihr weiter zu folgen, den Anschluß an die Herde hätte ich verloren. Es war schon eine Lücke zwischen Flöckchen und mir von gut fünfzig Metern, als ich mich dann doch von Jolanthe verabschiedete und  ihr drohend nachrief: "Dann geh doch alleine, Du willst wohl im Tannenwald verrecken-". Abends waren wir dann noch in der Nachbarschaft vorbeigegangen und hatten an wenigen strategischen Stellen Bescheid gesagt- Walter hatte  sogar seine Telefonnummer hinterlassen.

Zwei ganze Tage später kam ich morgens zur Herde und fand bis auf den üblichen, dunkeläugigen Hammel der draußen am Pferch sich bei der Herde aufhielt und möglicherweise den andern dauernd zurief, kommt doch auch raus, ihr doofen Lämmer, hier draußen ist das Gras viel besser - alle in guter, freundlicher Verfassung. Ich öffnete den unteren Pferch nach oben, wo ein Neuer gesteckt war, und bot den Schafen die frische Weide an. Gerne haben sie sie angenommen und ich war  richtig stolz darauf, selber die ganze Herde überredet zu haben, mit nach oben zu kommen. Dann entdeckte ich eines, was noch liegen geblieben war,: ungewöhnlich, denn bevor sich der ganze Herden-Korpus in Bewegung setzt "telefonieren" die miteinander, sprechen  was ab und erzählen sich, auf Drei gehts los oder was auch immer.

Ich schaue also nach dem schlafenden Tier, und ahnte Schhlimmes. Ein Mutterschaf, ziemlich schwer, so etwa 50 kg, hatte die Augen offen und war offenkundig verstorben. Nun, Wo geboren und gelebt wird, wird auch gestorben. Ich kümmerte mich nunmehr um den Leichnam, zog das Tier mit meinem Fanghaken den Berg hinunter und legte es,geschützt vor den Nachbarblicken hinter Brennesseln in der Absicht, nachmittags mich um die "Entsorgung" zu kümmern. Dazu hatte ich auch tagsüber ausreichend Gelegeheit. Ich fand heraus, was man alles machen kann, sei es ein Grab schaufeln ( kommt ja überhaupt nicht in Frage, sei es, den Jagdaufseher bitten, sich um die Entsorgung zu kümmern- das war aber der Tag, an dem er nicht zu einem Schwätzcchen auf die Weide kam. Also rief ich den andern Schäfer an und der sagte mir, ich solle den Menschen benachrichtigen, der sich auch sonst um die Abholung kümmert. Das tat ich dann auch und erfuhr, dass auf jedem Hof eine Stelle ausgemnacht ist, wo die Abdeckerei regelmäßig tote Tiere, für die es früher sogar noch kleines Geld gab, abholt, Also besorgte ich schwere Plastiktüten und nachmittags packten wir das tote Tier in zwei Säcke und brachten es zu einem entfernten Nachbarshof, wo der Schäfer seine toten Tiere immer schon abholen ließ. Das blöde Gefühl, dass jetzt ein Mutterschaf fehlt blieb mir den ganzen langen Tag über erhalten, besonders als ich zwei Lämmer am Nachmittag ständig, auch in der Mittagsruhepause blöken hörte, die aber vergeblich auf Antwort warteten. Nun Mutterschafe haben ab und zu auch die Schnauze voll von dem Geblöke ihrer eigenen Lämmer - den Beweis bekam ich erst bei Einpacken des toten Tieres: eindeutig zu alt für zwei Lämmer, keinen Euter, nur lange alte trockene Zitzen. Und Walter machte dem Tier dann den Mund auf und zeigte mir das fehlende Gebiß und die kleine Wunde am Vorderlauf: Jolanthe. Dann endlich war ich beruhigt: Hatte Jolanthe dann doch noch den ersehnten, schönen Herdentod erlebt, war eingeschlafen und in der nacht einfach so gestorben. Danke, Jolanthe, Du hast es gut gehabt.