Wie der Morgen am Kommen ist

Nein, Zerstreuung hatte er nicht gesucht. Er war auch nicht ausgeschlafen, war aber auch nicht mehr so müde, dass er nicht aufzustehen vermocht hätte. Es hätte halb sechs oder halb vier sein mögen. Auf dem Balkon fand er einen klaren Sternenhimmel vor, suchte den großen Wagen und fand ihn nicht, weil er sich nicht soweit hinauslehnen mochte. Aber er hörte wieder die Amsel. Er wollte die Geschichte endlich mal aufschreiben und begann damit dass er behauptete, er habe keine Zerstreuung gesucht. Und das um kurz nach halb vier. Der Kleinlaster mit den druckfrischen Zeitungen fuhr durch die Stadt, ein Spätheimkehrer drückte sich vorsichtig um die Kurven und man konnte am Fahrstil sehen, dass er nicht mehr nüchtern war.

Die Amsel hatte vor einigen Wochen schon vom Dach gesungen. Das war zu früh. Irgendwie sei die Welt aus den Fugen, so früh kommt noch kein morgen. Ein paar Tage später hatte die Katze eine junge Amsel als tote Trophäe angeschleppt. Dann war es eine ganze Weile still.

Und jetzt wieder. Auf der Spitze des alten Baumes an der Ampel musste sie Frühdienst machen und die ersten Morgengefühle herzaubern.

Was liegt heute an? Gut, dachte er, da hast Du Dich von der Vorvergangenheit in die einfache Vergangenheit geschleppt und bist in der Gegenwart und fragst was anliegt?   Ein Arztbesuch liegt an.

In der Stadt ist es ja so, dass man an einer Hauswand gegenüber sehen kann ob man  selber Licht hat oder nicht. Auch ob in der Wohnung darüber Licht wäre, müsste man sehen können. Und an diesem Morgen – die Amsel hatte ja behauptet, es sei schon der Morgen „am Kommen“ (in Tüttelchen, wegen der Kölschen Verlaufsform die üblicherweise mit „die Kuh am Schwanz am raus am Ziehen“ erklärt wird)  war über seiner Wohnung auch Licht. Das vertikale Streifenmuster an den Hauswänden gegenüber deutete auf Gardinen hin.

Als er schon wieder auf dem Balkon stand, konnte er sehen, dass es sich bewölkte, die Amsel hatte kurz gezetert, war dann still. Gegenüber hinter den Streifen der Gardine über ihm wurde kurz ein zweites Licht angemacht und er konnte jemanden gehen sehen im Schatten. Das war recht merkwürdig, weil jeder Schritt ungefähr fünf Meter auf der gegenüberliegenden Häuserwand ausmachte. Eigentlich ein zierlicher Mensch, aber solch große Schritte? Das muss an der Vergrößerung gelegen haben, ein Schritt machte mehr als ein Zimmer der gegenüberliegenden Wand aus. Nun ja, wenn die Gardinenschatten sich über drei Hauswände der gegenüberliegenden Häuserzeile hinzogen, wäre es plausibel, dass der Schatten des Menschen, der zwischen der Lichtquelle und der Gardine hergeht, sich auch entsprechend bewegt. Aber was ihn wunderte war, dass er meinte einen „zierlichen“  Menschen ausgemacht zu haben: müsste der nicht auch breiter gewesen sein, im Verhältnis zu dem Falten einer durchsichtigen Gardine? Das hatte mit Optik zu tun. Er dachte an die Verzerrungen der Wirklichkeit im Höhlengleichnis und beschloss, die ganze Geschichte nicht mehr mit philosophischem Interesse weiterzuspinnen sondern auf die Grundlagen der Optik als physikalischer Disziplin abzuschieben: zumal just am Ende seines Balkonaufenthaltes das Licht in der über ihm liegenden Wohnung ausging.