Keine Entführung

 

Mit meiner Einkaufstüte gehe ich über den Hademare Platz als ein Kind schreiend vor einem  Mann wegrennt, der hat Schwierigkeiten sie in den ersten zehn Metern einzuholen: Ein Kind rennt weg und schreit „Hilfe, bitte helfen Sie mir“. Als Erziehungswissenschaftler zuckt es durch meinen Kopf: Super, ein Kind, das so selbstbewusst und stark ist – das  wird mal eine Persönlichkeit, wie wir uns die Kinder immer gewünscht haben: selbstbewusst und stark!

Ich vergewissere mich, dass es der Vater ist - natürlich habe ich mir das Kennzeichen des Autos  schon eingeprägt.  Der Vater ist eigentlich freundlich, stark und bestimmt und eine leichte rheinische Färbung seiner Aussprache fällt mir auf. Nur kann er jetzt nicht mehr weg, weil schon einige Leute hinzugekommen sind, um dem Kind, das der Vater mittlerweile schon ins Auto gepackt hat und das immer noch nach der Mutter jammert, beizustehen.

Ein Mitbürger filmt die Situation, irgendjemand hat schon die Polizei verständigt. Jetzt ist der innerfamiliäre Konflikt „öffentlich“.

Die rechtliche Situation ist schnell geklärt- Es gab gestern eine Vereinbarung zwischen Vater, Mutter, Kind und mit dem Jugendamt, dass der Vater das Kind abholen kann, um drei Wochen Ferien mit seiner Tochter zu verbringen.

Also keine „Entführung“ sondern nur der mittlerweile stärker werdende Wille des Kindes, doch lieber nicht mit dem Vater in Urlaub  fahren zu müssen.

Das Kind hat inzwischen die Mutter am Telefon und eine andere Passantin  bittet die Mutter über das Handy des Kindes  doch herzukommen, was diese auch sofort zusagt. Der Vater ist ein wenig hilflos, weil er sehr genau wahrgenommen hat, dass einige Passanten von Kindesentführung denken und reden aber auch nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen höchstens den Vater um Verständnis bitten, dass ja soviel passiere und man dem Kind ja nur helfen wolle.

Ich rede mit beiden Eltern und versuche zu erklären, dass die Kinder immer nach dem Elternteil rufen, der gerade nicht da ist, dass sich das auch steigern kann, besonders in inneren Konfliktsituationen.

Anastasia regt sich sehr auf,  ist kaum bereit zuzuhören und zu reden und entscheidet immer aufs Neue, dass der Vater unfreundlich sei und böse und sie nicht mit ihm mitfahren wolle.

Die Polizei versucht zu beruhigen, mittlerweile ist die Mutter auch da, die Situation ist geklärt, keine Entführung: leider ist das Jugendamt nicht erreichbar und dann macht die Polizei etwas sehr Kluges: Eine Polizistin macht den Vorschlag, all das auf der Wache auszudiskutieren, und nimmt das Kind mit in den Streifenwagen - die Eltern sollen auch dorthin kommen. Zumal das Jugendamt an diesem Samstag mittag offenbar nicht erreichbar ist .  So entspannt sich dann die Situation und es geht , als das Kind schon im Polizeiwagen sitzt und losfährt, auf einmal ganz sachlich zwischen den getrennten Eltern, sodass die Mutter sogar beim Vater ins Auto steigt, damit der nicht kompliziert hinter ihr herfahren muss auf dem Weg zur Polizei.

Auf meinem Nachhauseweg kam mir noch mal mein erster Gedanke in den Kopf: Ganz schön selbstbewusst und  stark, diese kleine Anastasia. Ich überlege nachher, dass ich einen Aspekt im Eifer des Gefechts schlicht vergessen habe zu erwähnen: Ich hätte Anastasia klar machen müssen, dass sie überhaupt nicht schuld ist an der Situation, dass sie sich auf keinen  Fall die Schuld geben soll an der Trennung der Eltern - denn das wird sie nicht mehr ändern können. Sie muss nur mit dieser Trennungs-Situation immer wieder umgehen lernen.  Und das ganz große Theater, das sie heute inszenieren konnte, hilft ja nun auch nicht mehr, die Situation der Eltern zu ändern. Letztlich bin ich jetzt sicher, dass es irgendeine  Möglichkeit gibt für das Kind,  zufrieden die Ferien zu verbringen, so wie schon viele Jahre vorher auch.