Nähe und Ferne

Nähe und Ferne Er dachte an das Nah-sein von Stoffen, die beieinanderliegend durch mehrere Fäden- nach Möglichkeit von jedem der Stoffe einem- vernäht werden, trennbar nur mit Mühe; da gibt es Nähte, die so fest geworden sind, dass der Stoff nebenher reißen würde, nicht aber die Naht aufginge,  wenn man mit Gewalt dran zöge. Untrennbar, auftrennen, sich trennen, getrennt leben, Trennung, all diese Begriffe spazierten gemächlich durch seinen Kopf um ihm klarzumachen, dass es allein schon sprachlich etwas völlig Normales sei. Zur Nähe gehört die Ferne, die Trennung, das Dazwischen. Definiert durch feste Punkte an jedem Ende. Die Strecke. Ein gut Stück weit.
Dann aber erinnerte er sich wieder, wie er schräg vor ihr stand, die Augen soweit offen wie die des Hasen, den er am Abend vorher überfahren hatte. Jetzt stand er vor ihr zum Abschied. Er hielt ihre Hand und der Ellenbogen war soweit angewinkelt, dass sein Handrücken an ihrem Busen wie eine Brücke zur Nähe, zur wirklichen Nähe wurde. Es war, wie wenn Gefäße aufgehen, Regen quer peitscht, wenn Unwetter einem klarmachen, wie unwichtig und klein, wie nebensächlich wir sind. So donnerte nur ein kleiner Gedanke durch seinen Körper, zwar zugekleistert mit Alltagsgequatsche; wer aber zu sehen vermag, kann noch hinter dem Kleister alle Konturen genau erkennen. Dieses Gedankendonnern macht viel mehr Lärm als es Schaden anrichtet. Nein, es grollt wie von Ferne, die Unmöglichkeit des Hier und Jetzt obwohl das Ankommen des Gedankens im Augenblick gefeiert werden kann, soviel Nähe im Sich Wegdrehen, im Alltagsdeutsch und dahinter Tiefe, Sehnsucht und Verzicht. Anklage und Verzeihung. Bitten und Betteln. Sich wegdrehen und hin. Der Hase muss noch von der Straße. Wie ein Selbstmörder, der keine symbolischen Aktionen mehr mag, der sich sicher ist über sein Tun, konsequent und entschlossen, er hört mich kommen und passt genau den Augenblick ab, in dem ein Entrinnen aufgrund physikalischer Gesetze nicht mehr möglich ist. Dieser namenlose Selbstmörderhase sprang ihm - raste wie nur Hasen in Todesahnung rasen können vor das nicht einmal schnell fahrende Auto - wurde kurz gewendet durch den Aufprall wohl am Nummernschild, also eher schon unter dem Fahrzeug und ließ sich dann völlig gnadenlos überrollen vom rechten Vorderreifen. Bremsen war erst nach dem Doppelton des Überfahrenwerdens durch beide Reifen rechts möglich. Doppelt genäht hält auch der Hasen Tod besser. Da lag er dann, kaum sichtbare Verletzungen, kein Zucken mehr, die großen Augen offen, wie auf den letzten Segen wartend, zu spät um ihm einen Namen noch zu geben. Zu spät. Und überhaupt, vielleicht war's kein Rammler sondern eine Häsin, dann jammern jetzt die Jungen und eine Tante, eine Hasentante wird sich kümmern, hoffentlich.