Pflegestufe:   Zu spät hatte er bemerkt, dass er seine Brille nicht dabei hatte- so musste er nochmal zurück ins Schlafzimmer, von wo er auch das Telefon mit an seinen Computer brachte, um aufzuschreiben, warum er nicht schlafen konnte. Und seiner guten Fee, die sich auch nicht mehr blicken ließ, hätte er sagen wollen, dass es ihm jetzt gerade schlecht gehe, eigentlich sehr schlecht.

Nein, das Fernsehen zur Abtötung aller eigenen Gedanken taugte jetzt auch nicht: Es hatte unmittelbar getaugt als er am Telefon reagierte und sich noch verbesserte- Nein, heute schaff ich das nicht mehr- „ich komme morgen  mal vorbei.“

Und gerade jetzt nach Jauch und Böttinger, als er schlafen gehen wollte weil es ja auch schon halb elf war und er immer noch seine Großmutter sagen hörte, dass der Schlaf vor Mitternacht der gesündeste sei (warum sein Computer gerade jetzt mal den sound vom Korrektur-Männlein, das auftaucht und dann wieder verschwindet,  sich meldet, weiß der Himmel) also gerade jetzt marodieren die jungen Leute mit Migrationshintergrund auf der Kreuzung vor der Spielhölle, die ein sichtbares Zeichen ist für die Unschlüssigkeit des Staates, Glücksspiele zu verbieten- wo der Staat doch selber versucht hat, per Glücksspiel sich an internationalen Geldmärkten zu bereichern und die Finanzkrise offenkundig hat werden lassen- wer hat da nicht aufgepasst?- also ich verliere mich noch, dachte er und es ist schon so spät. So spät die paar Gedanken aufzuschreiben, die  hämmern im Kopf: Sozialstaat zum Beispiel.

Menschenrechte von Behinderten. Und Alten. Und Alten Behinderten. Und Alten Behinderten Pflegebedürftigen. Die Renten sind sicher, sagte einst ein Arbeitsminister. Die Ersparnisse sind sicher, sagte vorige Woche die Bundeskanzlerin. Die Gesundheitsministerin hat vor einem halben Jahr schon gesagt die Pflegekassen funktionieren, zwar werden die Beiträge auch mal erhöht werden müssen aber im Prinzip gibt’s jetzt dann etwas mehr, auch für Alzheimer Patienten.

Dann war nämlich ein Schreiben vom Sozialamt gekommen- ....schicken in der Anlage ein Formular zur Beantragung einer Pflegestufe bei der Ortskrankenkasse. Mit freundlichen Grüßen. Auf Rückfrage, das sei jetzt anders geregelt und das Sozialamt habe nix mehr mit der Pflegekasse zu tun. Prompt kommt später ein Mensch der sich als Beauftragter der AOK vorstellt - nicht etwa jemand direkt von der AOK, nein, ein Beauftragter, der sich lauter Notizen macht. Er ahnt Schlimmes: Kam dieser Mensch doch aus der Büro-Welt mit recht sauberen Klamotten und sitzt im schmuddeligen Sessel, als er ins Wohnzimmer seines Mieters hinzu trat, einfach um aufzutauchen, weil die Pflegeperson gerade keine Zeit hatte (die hatte der Mensch aber kurz beim Kommen gesehen) und er sonst auch sich kümmere wenn es irgendwas zu regeln gab. Nein, er sei kein Betreuer im gesetzlichen Sinne, er habe hier eigentlich nichts zu sagen, nur auf Wunsch seines Mieters dabei sein.

Und der fährt sein ganzes Programm ab: wie problemlos er hier lebe, es sei zwar nie sauber aber er fände es gut so und er wolle nur in Ruhe gelassen werden- wie er sich die Fußnägel pflege, wollte der Mann in der hellen Hose wissen- mit dem Seitenschneider schaffe er sogar das;

ob er mal schauen könne- nein, das nun gerade wolle er nicht, auch die Knie, die schon ramponiert seien, wolle er nicht zeigen- oder sei das hier eine medizinische Untersuchung?

Ihm wurde flau, was macht der denn da- es geht doch nicht um einen integrierten guten Eindruck, es geht um Pflegebedürftigkeit! Na zum Glück gibt’s ja das medizinische Gutachten, denkt er noch und klärt den Mann in der Sommerkleidung darüber auf, dass sein Kunde schon seit vielen Jahren – er wird belehrt von seinem Mieter „seit Jahrzehnten“- Pflegegeld beziehe und das aufgrund seiner nachweisbaren, offenkundigen und von allen Amtsärzten und Schwerstbehindertenstellen bestätigten Pflegebedürftigkeit. Er erwähnt das Aktenzeichen. Und äußert seine Verwunderung darüber, dass der Mann im Auftrag der AOK keine Unterlagen mit Aktenzeichen dabei hat. Darin wären auch ein nicht einmal altes Gutachten der Amtsärztin von vor drei oder vier Jahren.

Der heutige Bescheid bescheinigt, dass ein Pflegebedarf von wenigstens 90 Minuten nicht besteht. 10.Oktober 2008