Schnee 2001 Ich sollte mich noch höher setzen, damit ich Übersicht habe.
Draußen ist schon Schnee, liegen geblieben; angefangen hat es zu stürmen und
zu regnen, dann kam etwas Hagel und jetzt seit Stunden Schnee. Die Kinder
sind unterwegs: alle. Ich mache mir Sorgen und auch wieder nicht, denn Schnee
ist normal und Kinder sind clever.
Ich bin nicht normal. Manchmal bin ich müde, abgeschlafft und glaube nicht an
erquickenden Schlaf. Warum wohl? Noch nicht einmal die Worte gleiten wie
sonst, sind spröde: Dass die Dinge aufsässig werden können sagte ich ja, aber
wenn die Worte spröde werden, rissig, anfangen zu schimmeln, verbraucht ,
schon lange abgenutzt und nicht mehr treffend- Worte wollten sein wie
Schwerter oder Nadeln, Sicheln, Sensen, Ketten, Seile, sie wollten
Wirklichkeit bannen, fesseln, "begreifbarer" machen. Worte wollten Grenzen
setzen.
Klarheit bringen über den Schnee. Und ich weiß auch, dass es einen schönen
klaren, schneidend kalten Winter geben kann, wo Schnee die Voraussetzung für
absolute Klarheit ist.
Nun kommt ein Schneepflug, ein Schieber herauf . Er schiebt kleine Haufen an
die Seite, rollende Bälle purzeln dann auf den Gehweg. Vorhin, als ich ein,
zwei Kilometer durch den Schnee laufen musste, weil mein Auto stecken
geblieben war, spürte ich die kalte Nässe im Ärmel, zog die Bänder an der
Kapuze fest und stapfte mutig weiter. Das gehört halt dazu, wenn man auf dem
Berg wohnt.
Und ich will hier oben wohnen und ich will klare Worte finden und ich will
weiter spüren, wie die Haut sich dem Zentrum meiner Gedanken nähern kann,
auftauen, Wärme und Müdigkeit genießen. Dazu kommt, dass ich erst in fünf
Tagen meine Winterreifen bekomme- zu lange gewartet! Da fällt mir wieder ein,
dass es bei uns ja ein halbes Jahr lang Winter ist. ein ganzes halbes Jahr
lang müssen wir mit Schnee rechnen. Was wird dieser Winter bringen. Immer
bringt der Winter was; wie Lebkuchen zu Weihnachten.
Welche Klarheit steht uns bevor? Mit welchen stumpfen Worten werden wir
abgespeist werden? Wer wird am lustigsten lügen? Der Schnee lässt mich
jedenfalls wissen, dass es auch in Afghanistan jetzt kälter wird, dass
Menschen sich nicht werden nach Hause wenden können und vielleicht auch Feuer
machen im Kamin oder ganz in Ruhe und Wärme, in Wohlbehagen, weil die Ernte
gut war, höher setzen, um sich schauen und auf Sonne warten.
Dort ist kein Unterschied mehr zwischen Drinnen und Draußen. Der Schnee sagt
mir, dass er überall gleich kalt ist, aber zu wenig, um ein Iglu zu bauen, zu
schwer um drüber wegzusehen. Weißer Schnee hatte in meiner Vorstellung immer
etwas an Erbarmen Erinnerndes. Sanftere Linien: gleitende Übergänge. Blut
zieht jetzt durch Schneekristalle, auch nach oben. Nun bekommt der blutige
Schnee eine andere Qualität. Angst weitergegeben in Schneeflocken.
Normalerweise schmelzen Schneeflocken auf meinen warmen Händen- jetzt sagt
mir der Schnee, dass er liegen bleiben wird, bestenfalls zudecken wird,
millionenfach zudecken die Bombentrichter, die Kranken, die
Zurückgebliebenen, die Leichen. Dieser Schnee ist anders als die vorigen. Ist
auch schon wieder Schuld dabei.
Schuldschnee ist sehr kalt, warum hatte ich das vergessen? Warum vergessen
wir Flucht und Vertreibung, warum vergessen wir Ausgebombt werden, Väter
verlieren und Söhne, Kindersterben, Trauerbiograhien,
warum
vergessen wir das Massenmorden und Massensterben: Wollten wir denn nicht "nie
Vergessen"? Hatten wir das nicht unsern Kindern versprochen? Alle heiligen
Eide geschworen?
Ich hasse diesen Schnee in diesem Jahr.